Schauspiel Essen — Spielzeit 2024/2025

Neues Deutsches Theater

Common Ground
Wir sind sehr dankbar, liebes Publikum! Das erste Jahr mit Ihnen in Essen, das gegenseitige Kennenlernen, war aufregend, inspirierend, berührend und all die Begegnungen, Gespräche, die große Aufmerksamkeit und die sehr gute Resonanz haben uns für unser zweites Jahr mit Energie, Ideen und Fragen aufgeladen. Wir starten mit großer Vorfreude in die zweite Runde!
In der ersten Spielzeit haben wir die Baustelle „Neues Deutsches Theater“ eröffnet. Jetzt, im zweiten Schritt, gießen wir, bildlich gesprochen, das Fundament unseres Hauses. Wir möchten an einer gemeinsamen Basis arbeiten – gegen die Polarisierung in unserer Gesellschaft. Das Projekt eines „Common Ground“, eben dieser Basis, kann, denken wir, gelingen, wenn sich alle darauf einlassen, Perspektiven zu wechseln, eingeübte Gewissheiten zu hinterfragen und sich auf einem neuen gemeinsamen Grund zu begegnen. Deshalb möchten wir künstlerisch-spielerisch in einen Dialog treten dazu, was uns verbindet – nach Gemeinsamkeiten suchen und das identifizieren, was wir uns für unser Zusammenleben wünschen. Als Ort der kollektiven Geschichten und Bilder möchten wir mit unseren Mitteln dem populistischen Narrativ unversöhnlicher Spaltung Geschichten entgegenstellen, die den Wert des pluralem Zusammenlebens spürbar machen und aushandeln.

Wir eröffnen unsere Spielzeit mit Hakan Savaş Micans Theaterbearbeitung von Ulrich Alexander Boschwitz Roman „Der Reisende“ von 1939. Wie Menschen innerhalb kurzer Zeit zum rechtlosen Fremden gemacht werden können, schildert der junge Autor unter dem Eindruck der Novemberpogrome 1938 und lässt uns teilhaben an einer atemlosen Suche nach dem Ausweg. Was die Aufkündigung einer gemeinsamen Grundlage – eines Common Ground – bedeutet, sucht Mican in seiner sehr persönlichen Fassung dieses Stoffes aus einer aktuellen Perspektive und lädt das Publikum zu einem humanistischen Abend ein.

Ein weiteres großes Stück des Perspektivwechsels ist „ Istanbul“ von Selen Kara, Torsten Kindermann und Akın Emanuel Şipal. Das Erfolgsstück mit Liedern von Sezen Aksu wird seit Jahren an vielen Theatern inszeniert und gefeiert und kommt jetzt, zu seinem 10. Jubiläum, endlich nach Essen. Es stellt die Frage danach, wie es gewesen wäre, wenn das Wirtschaftswunder in der Türkei stattgefunden und aus Deutschland Gastarbeiter*innen dorthin aufgebrochen wären. Die überarbeitete Fassung wird sich konkret mit Essen und der Geschichte der Menschen in dieser Stadt beschäftigen.

Was wir weiterverfolgen werden:
Zwei große Klassiker werden auf der Grillo-Bühne Premiere feiern: „Hamlet/Ophelia“ in der Regie von Selen Kara und „Peer Gynt“ (Regie: Caner Akdeniz), die beide als rebellische, teils größenwahnsinnige Emanzipationsgeschichten von der Suche nach Identität vor dem Hintergrund familiärer Erwartungen und gesellschaftlicher Zurichtungen erzählen. Nach der gefeierten Premiere von „Doktormutter Faust“ im letzten Jahr steht mit dem großen Shakespearestoff eine weitere aktuelle Betrachtung eines Klassikers aus einer feministischen Perspektive auf dem Spielplan.

Natürlich bleiben wir im Sinne des „Neuen deutschen Theaters“ ganz besonders der Zeitgenoss*innenschaft verpflichtet: Die Hälfte unserer Premieren sind Uraufführungen und Auftragswerke. Wir präsentieren neue Stücke von sechs großartigen Künstlerinnen – die Auftragswerke der Preisträgerin des Mülheimer Dramatikerpreis Anne Lepper („Anziehen Ausziehen“) und der britischen Erfolgs-Autorin Dawn King, sowie Uraufführungen und neue Stücke der renommierten israelischen Choreografin und Regisseurin Saar Magal („Sakrileg“), der rumänischen Dramatikerin und Filmregisseurin Teona Galgoţiu („Memories of snow“), der Autorin und Regisseurin Rachel J. Müller („Tabak“) und der Romanautorin Bettina Flitner („Meine Schwester“).

Neben diesem Autorinnen-Schwerpunkt werden interdisziplinäre Formen die nächste Spielzeit prägen: vom Tanztheaterstück „Sakrileg“, über einen Dialog mit Puppenspiel („Meine Schwester“) bis hin zu einer neuen digital/hybriden Produktion, dem narrative space „Memories of snow“ und dem Gaming Format „setup.school(). Die Lernmaschine“. Wir werden selbstverständlich unsere partizipative Arbeit im Bereich der Stadt-Dramaturgie fortsetzen und freuen uns sehr, dass der preisgekrönte Regisseur Adrian Figueroa gemeinsam mit Jugendlichen und Ensemblemitgliedern eine Inszenierung entwickeln wird.

Unsere größte Herausforderung in der nächsten Spielzeit wird es sein, eine Ersatzspielstätte für die CASA zu finden. Leider müssen wir in den Sommerferien aus der Theaterpassage ausziehen, ohne bisher eine definitive Perspektive zu haben. Wir werden aber zu unserem Versprechen stehen, an der Öffnung des Theaters zu arbeiten, und dafür braucht es natürlich auch einen sicheren Ort für das Kinder- und Jugendtheater und unterschiedlich große Räume. Wir freuen uns sehr darauf, weiter mit Ihnen zu feiern, zu diskutieren, zu lachen und zu streiten und zusammen nach neuen Geschichten des Zusammenlebens zu suchen – nach einem Common Ground!

Selen Kara
Intendantin des Schauspiel Essen

Christina Zintl
Intendantin des Schauspiel Essen